Vorbei am Stück und doch sehr nah - die Traviata 2012
Das kurze, aber sehr ergreifende Leben der 1824 in der Normandie geborenen Marie Duplessis wäre mit Sicherheit einfach in Vergessenheit geraten, hätte nicht der französische Romancier Alexandre Dumas junior aus seiner Begegnung mit dem Mädchen einen berühmten Roman gemacht. Die kurze Liaison der beiden wird in "La dame aux camelias" (Die Kameliendame) erzählt, dessen Erstauflage 1848 in Paris unglaubliche 12.000 Stück betrug. Das junge Mädchen, dessen Mutter starb, als sie acht war, flüchtete vor dem gewalttätigen Vater in die Großstadt Paris, wo sie sich in der Demi-monde als Edelkurtisane einen Namen machte. Ihre zarte Schönheit und das verzaubernde Auftreten ließen sie aufs Erste nicht wie eine Hure wirken. Die Männer lagen ihr zu Füßen. Einer ihrer letzten Liebhaber war niemand geringer als Franz Liszt, der sie als wohl vollkommenste Verkörperung einer Frau beschrieb. Sie starb 23jährig vereinsamt in ihrer Pariser Wohnung an einer Lungenkrankheit.
Aus der Roman-Vorlage Dumas' machten der Librettist Francesco Maria Piave und der Komponist Giuseppe Verdi eine unsterbliche Oper - "La traviata". Bis heute, neben der Dramatisierung des Buches und dem Ballett mit Musik von Frédéric Chopin, die berühmteste Umsetzung der "Kameliendame".
Ein Skandal die Uraufführung der Oper in Venedig 1853: eine Hure auf der Bühne, kein altertümlicher Stoff, sondern zeitgenössiche Literatur und der siechende Lungentod der Hauptfigur waren für das damalige Publikum eine zu große Neuerung.
Ist die Geschichte aber in die unsrige heutige Zeit umzulegen? Kann eine Edelhure heutzutage die selbe Story liefern und könnte man, zusammen mit der Verdischen Musik, einen aktuellen Konnex herstellen?
Das Salzburger Landestheater hat dies mit einer Neuinszenierung eindrücklich und aufwendig im März 2012 probiert. Man scheiterte jedoch, wie meist mit Aktualisierungen von alten Textvorlagen, an der Konsequenz.
Sozialkritik im Stück - Mediengeile Gesellschaft
Violetta Valery ist eine Webcam-Hure. Sie filmt sich selbst und projiziert sich auf die Computer der anonymen männlichen Zuseher. Moderne Unterhaltung ist das; der plüschige Salon als Treffpunkt hat ausgedient. Alfredo wird ihr per Cam vorgstellt, das Trinklied, normalerweise die spontane poetische Eingabe zur allgemeinen Unterhaltung, ist hier eine schunkelnde Verarsche ohne Zweck.
Dann dringt Alfred als reale Person vor Violetta, schenkt ihr eine Puppe. Marie Duplessis' Markenzeichen waren Blumen, genauer Kamelien, die einzige Sorte, die sie als Geschenk akzeptierte und stets im Haar trug. Die Puppe symbolisiert den Kinderwunsch. Mehrere Abtreibungen hat das junge Mädchen schon hinter sich, wie wir in der Ouvertüre bildlich erklärt bekommen. Der Mann, der ihr Kindersachen schenkt, könnte doch ihr Ausweg sein, sinniert Violetta in der großen Arie ("Als Mädchen malte mir
ein keusches bebendes Verlangen
in lieblichsten Farben den idealen Mann meiner Zukunft."), während sie mit Baron Douphol Geschlechtsverkehr hat.
Das Landhaus in der Nähe von Paris, gemeinsamer Zufluchtsort des Paares, welches sich also im Internet kennengelernt hat, ist ein Campingwagen. Immerhin einer der luxuriöseren Marken. Alfredo breitet die Picknickdecke aus und markiert so den "lieblichen Ort", von dem er singt. Violetta trifft Alfredos Vater, der ihr Geld anbietet, wenn sie nur seinen Sohn verlassen würde. Gleichzeitig stellt er ihr die angebliche Schwester Alfredos vor. Später erfährt man, dass es die vorbestimmte Zukünftige ist, als Alibi vorgeschoben. Eine, von jeher heikel zu inszenierende abwesende Person, die so eigentlich logisch in das Geschehen integriert wird. Doch ist sie wirklich die Frau, an die Violetta denkt, wenn sie Alfredo später am Sterbebett ihr (virtuelles) Bildnis überreicht?
Dann Sozialkritik: Floras Fest ist eine Vernissage. Journalisten mit Fotoapparaten und Mikrophonen dokumentieren das High Society Geschehen der eintreffenden Gäste, die, warum auch immer, von Zigeunerinnen und Stierkampf singen. Dieses Fest hat nur einen Zweck: ähnlich wie in Peter Konwitschnys "Don Carlos" dem Publikum den Spiegel vorzuhalten: "seht her, wie mediengeil ihr doch alle seid!". Klug, aber fehl am Platz. Vor allem, warum gibt es in Paris ORF-Mikros?
Grablichter markieren den Übergang zum dritten Akt. Violetta, jetzt plötzlich schwanger, laut Libretto aber von Doktor Grenvil unheilbar krank diagnostiziert, liest aus den Email-Briefen von Alfredos Vater - aus dem Gedächtnis, denn ihre Dienerin ist mit dem Laptop bereits abgegangen. Dann die freudige Nachricht - Alfredo klingelt via Skype an. Das Zusammentreffen ist rein virtuell, Vater Germont erscheint real zum Krankenlager. Alfredo flüchtet jedoch feige vom Laptop während Violetta, von Journalisten umringt, eine Fehlgeburt erleidet ("In mir erwächst . . . mich belebt
eine ungewohnte Kraft! Ah! Ich kehre ins Leben zurück.") und schlussendlich daran stirbt.
Mitleidsvoll sehen wir uns das an. Eine tragische Story - aber ist das die "Traviata"?
Und hier mein Kritikpunkt:
das Internet- und Medienzeitalter ist da - keine Frage. Die Mischung aus Skandal und Voyerismus der gutbürgerlichen Gesellschaft als sozialkritischer Ausgangspunkt der Inszenierung der "Kameliendame" - eine gute Idee. Nur: das ältere Publikum wird sich aber kaum in der Internet-Erotik wieder finden und ist mit dem Gesehenen auf der Bühne überfordert. Das durchaus zahlreich anwesende junge, fast wichtigere, Publikum, das die Oper womöglich das erste Mal gesehen und gehört hat, wird hingegen in Zukunft sagen: die Traviata stirbt an einer Fehlgeburt.
So weit hat man sich von der Geschichte, einem der berühmtesten Stücke der Literatur, entfernt.
Die Wahrheit weiss nur Alexandre Dumas junior.