Zunächst die Regie: Jean-Francois Sivadier ist einer der führenden französischen Schauspiel-Regisseure zur Zeit. Dass er Oper macht, ist wohl der Mode zuzuschreiben, die es international momentan gibt, dass Künstler vom Sprechtheater auch Musiktheater interpretieren sollten, um den Horizont zu erweitern. So macht an der MET Bartlett Sher eine Rossini-Oper, für die Bayerische Staatsoper wird Andreas Kriegenburg den "Ring" inszenieren, Stephan Kimming hat den "Don Giovanni" interpretiert. Allessamt Opernneulinge mit einer ganz anderen Ausdrucksweise wie eigentliche Opernregisseure.
Sivadier geht ganz unkonventionell an die "Traviata" heran. Keinerlei Interpretationskitsch, der sich über die Jahre in das Werk eingeschlichen hat. Die Bühne leer, Vorhänge schaffen Räume, Stühle bieten Sitzgelegenheit. Das Theater entsteht aus dem nichts und doch entwickeln sich Situationen, Beziehungen und das Drama. Allein durch das Schauspiel der Sänger und die Imagination des Zuschauers. Großartig eigentlich.
Es ist eine französische Sicht der Dinge, kein deutsches Regietheater, das unlogische Zusätze benötigt. Hier entsteht etwas aus der Musik, im Zusammenspiel mit den Sängern und dem Publikum.
Man hört und liest, dass man sich schon fürchte, wenn die Produktion im Herbst an die Wiener Staatsoper kommt, die Otto Schenk Traviata ablösen wird. Man schimpft und macht im vorhinein schon alles schlecht. Warum in diesem Fall? Ich finde den Ansatz Sivadier's sehr repertoiretauglich, man braucht halt nur charismatische Sing-Schauspieler.
Zum Gesang, zur Musik: Louis Langrée, zukünftiger Chefdirigent unserer Camerata Salzburg, leitete das London Symphony Orchestra, ein genuines Konzertorchester. Diesmal spielen sie Oper, und wie! Fein abgestimmt die Streicher, schön im Ton das Holz. Ausgewogen das Dirigat, manchmal langsam, vielleicht für manche Sänger zu tragend.
Charles Castronovo gestaltet den Alfred zunächst naiv, schüchtern, seine Stimme hat keine Durchschlagskraft, sondern eher eine Art samtenen wohlklingenden Schmelz. Das macht ihn zum perfekten jugendlichen Liebhaber. Sein Vater ist Ludovic Tézier, ein in Frankreich groß gefeierter Bariton. Kernig die Stimme, manches Mal brüchig. Alt scheint er geworden zu sein. Man beklagt sich, er sei dennoch zu jung aussehend für einen Père Germont, könnte fast Alfreds Bruder sein. Pah - Solange er schön singt, ist mir das egal. Besser allemal, als jemanden durch eine graue, schlecht sitzende Perücke zu entstellen.
Und nun zum Star des Abends: Natalie Dessay als Violetta. 2009 hat sie die Rolle das erste Mal ausprobiert. Bei den Opernfestspielen in Santa Fé (USA). Dort auch, wie in Aix, eine Open Air Bühne. Es ist so, als ob sie auf ein Ziel hin gearbeitet hätte. Nach reinen Koloratursopran-Rollen wie Olympia (Hoffmann), Königin der Nacht (Zauberflöte), Zerbinetta (Ariadne) folgten große Belcanto Partien wie die Amina (Sonnambula), die Lucia (di Lammermoor) und die Marie in der Fille du Régiment. Jede dieser Rollen braucht Koloratur aber auch Dramatik, Linie aber auch Brüchigkeit. Finde ich zumindest.
In Barcelona hat sie mit Villazón gemeinsam die Massenet'sche "Manon" gesungen. Eine Rolle, die oft mit lyrischen Sopranistinnen besetzt wird, selten mit Koloratur. Auch Edita Gruberova hat sie in jungen Jahren gesungen.
Und die Traviata? Madame Dessay ist jetzt auch schon 46, hinter dem mädchenhaften Aussehen verbirgt sich eine gereifte Dame. Die Kurtisane ist unglücklich. Träumt sich in die Liebesgeschichte mit Alfred, der sichtlich jünger ist als sie selbst, hinein. Am Ende quält sie sich nicht in einem Bett zu Tode, sie stirbt in einem "Überraum", auf das Publikum zugehend, mit dem letzten Akkord im Lichtaus zu Boden fallend. Stimmlich stößt die Sängerin an ihre Grenzen, Verdis Gesang hat eine größere Bandbreite als jede andere Partie, die sie bis jetzt gesungen hatte. Im "É strano" des ersten Akts bleibt ihr (auch hitzebedingt) kurz die Stimme weg. Die hohen Töne sitzen aber perfekt. Im Duett mit Germont setzt sie durchaus auch Dramatik ein, das "Ah m'ami Alfredo" gelingt nicht so inbrünstig wie bei anderen, verfehlt aber dennoch nicht den Effekt. Für den dritten Akt hat sie gute Reserven, sich den Atem einzuteilen für "Addio del passato" und das Terzett und zusammen mit der Regie wird der Schluss zum eindrücklichen Glücks-Moment, weil hier, was selten ist, eine Künstlerin stirbt, keine hüstelnde Soubrette. Und das macht den Wert dieser Aufführung aus: Dessay singt mit ihren Möglichkeiten und präsentiert uns einen/ihren Charakter. Während andere geniale Sängerinnen mit traumhafter Stimme oft den (regiebedingten) Klischee-Charakter in die Musik pressen mussten. (vgl. Traviata mit Mirella Freni)
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