Intellekt gegen das Stück
Moderne Opernregie - Ansichten und Tendenzen
Wie frei ist die Sicht auf die Geschichte, die ein Autor versucht, uns zu erzählen?
Wie streng muss ein Regisseur das ihm vorgebene Libretto umsetzen? Ist es hilfreich Stücke aus dem Kontext zu nehmen und werden sie dadurch womöglich aufgewertet?
Anlässlich dreier Opern-Neuproduktionen aus dem heurigen Festspielsommer möchte ich dazu gerne einen Kommentar abliefern. Und mich dabei gleich als konservativ outen. Ich bin jung, ich bin sicher nicht "alt-modisch", dennoch sehe ich gewisse Tendenzen im modernen Regietheater im deutsch-sprachigen Raum mit Sorge oder zumindest mit einem großen "?" und mache mir Gedanken über gewisse Moden in Bezug auf aktuelle Opernregie.
Da ist die Premiere von Umberto Giordanos "Andrea Chénier" auf der Seebühne in Bregenz. Ein Werk, das auf den ersten Blick, auch aufgrund seiner geringen Popularität bei der Masse, wenig geeignet scheint für so ein Spektakel. Ich aber finde es gerade das richtige Werk für diese Bühne, viel besser als die Puccini-Klassiker "La Bohème" oder gar "Tosca". Beides sind für mich Kammerstücke und verfehlen ihren Effekt auf der großen Open-Air-Bühne. "Chènier" hingegen besitzt sowohl Massenszenen als auch spannende Intimmomente, die gerade in dem vorliegenden Bühnenbild (frei nach dem Gemälde "Der Tod des Marat") gut zur Wirkung kommen. Aber: als extrem störend fand ich die dazukomponierte Musik zwischen den Akten. Moderne Klänge, E-Gitarre für die Dolby-Surround Anlage der Festspiele, der Musik Giordanos nicht würdig. Alles umsonst - die opulente Regie näherte sich ästhetisch dadurch arg verdächtig einem Musical. Man darf nicht vergessen, dass viele Zuschauer das Stück (noch) nicht kennen und so in die Irre geführt werden. Das Original wird verfremdet.
Der "Tannhäuser" in Bayreuth ist das bis jetzt extremste Beispiel einer (deutschen) Regieansicht, die sich in letzter Zeit durchzusetzen versucht: die Überlagerung einer Aktion, die mit der Handlung nichts zu tun hat. Das Publikum lehnte Sebastians Baumgartens Sicht auf die Wagner-Oper vehement ab - gut so. Meinereiner hat das gesamte Stück so nicht gesehen. Aus Meinungen, Kritiken, Berichten und persönlichen Gesprächen fasse ich mir aber meine Ansicht: brutale Dekonstruktion eines Werkes ist NICHT der Weg Wagner, generell jedes Stück, (besser) zu veranschaulichen oder aufzuwerten. Der Begriff "Werktreue" bekommt in Bayreuth eine ganz andere Dimension. Wenn man bedenkt, dass das Werk als solches vor lauter Gaskessel und Kübel voll von Exkrementen nicht mehr erkennbar ist, sehrwohl aber z.B. die Grundstruktur des "Sängerstreits" im zweiten Akt relativ original bebehalten wird. Da steckt kein Sinn dahinter. Aber: Werktreue gilt in Bayreuth nach wie vor als oberstes Ziel. So kann man sie umgehen. Und der vielgerühmte "Werkstatt-charakter" in Bayreuth wird das Grundkonzept in den nächsten Jahren auch nicht besser machen.
Es sind generell Tendenzen zu erkennen. Regisseure wiederholen Ideen: die Labor-Situation, das Experiment (Hans Neuenfels' "Lohengrin" bei den Ratten) widerspiegelt sich in der Wartburg-Maschine im "Tannhäuser" des Aktionskünstlers Loep van Liehout. Menschen in einem Zyklus gefangen. Als Idee gut, die Umsetzung derart daneben, dass man um den Wert Bayreuths, ja Wagners Gesamtkunstwerk bangt.
Eine andere Tendenz: Theater im Theater, das Entstehen von Stücken aus Alltagssituationen. So geschehen unlängst bei der "Traviata" in Aix en Provence von J. Sivadier. Aber auch Christof Loy macht das gerne. Seine "Theodora" von Händel als Opern-Oratorium entwickelte sich szenisch aus einer Probe zur Aufführung derselben und die "Frau ohne Schatten", die in Salzburg am 29.8. Premiere hat, wird im Rahmen einer Platten-Aufnahme in den 1950er Jahren erzählt. Der Mehrwert der Entfremdung hier: Strukturen und Beziehungsgeflechte lassen sich doppeldeutig besser und logischer ausdrücken. Loy arbeitet an Personen und Charakteren, geht zwar ebenso von ganz anderen Werk- schauplätzen aus, entwickelt aber aus dem Text und mit der Musik sein Konzept. Der Ansatz ist intellektuell aber greifbar, Baumgartens "Tannhäuser" hingegen ist pseudointellektuell und das Stück nicht mehr fassbar.