Frederic Chopin
Études
Jan Lisiecki
€ 21,90
Mit der wachsenden Popularität des Klaviers bei Amateuren setzte im
frühen 19. Jahrhundert eine Schwemme von Veröffentlichungen mit kurzen
didaktischen Klavierstücken ein. Praktisch jeder Virtuose, von Clementi
bis zu Kalkbrenner, gab die Methodik hinter seiner Kunst in Form eigener
Etüden oder Studien preis. Bis heute traktiert man junge
Klavieraspiranten mit Sammlungen wie „40 tägliche Übungen“ oder „Die
Kunst der Fingerfertigkeit“ von Carl Czerny. Die zwei Etüden-Sammlungen
von Frédéric Chopin setzten sich von der überwiegend trockenen Materie in besonderer Weise ab. Zwischen 1828 und 1836 entstanden, beruhen seine Etüden opp.10 und 25 zwar
auch auf unterschiedlichsten technischen Problemstellungen des
Klavierspiels. Doch Chopin beseelte sie mit Raffinesse, Ausdruckskraft
und Gefühl.
Technik als Nebensache
„Schönheit und Musik, darum ging es in diesen Etüden, der hohe technische Schwierigkeitsgrad ist zweitrangig“, meint Jan Lisiecki. Der
kanadische Pianist begegnete ihnen zum ersten Mal im Alter von sieben
Jahren. Zur Verbesserung seiner Technik hatte ihm seine Klavierlehrerin
konventionelle Übungen vorgelegt. Doch Lisiecki sträubte sich. „Ich
schaute mir diese Übungen an und sagte meiner Lehrerin, es sei keine
Musik darin. Da gab sie mir Chopins langsame und lyrische Etüde op.10
Nr.3.“ Der heute 18-jährige Pianist sagt von sich, er
versuche mit seiner Kunst die Schönheit der Musik zu zeigen, statt
perfektes und virtuoses Spiel zur Schau zu stellen. Kaum passender hätte
die Wahl für seine erste Solo-Recital-Aufnahme für Deutsche Grammophon
ausfallen können. Die Etüden Chopins, von dem der Pianist Edwin Fischer
einmal sagte, er habe das Klavier zum „Künder letzter Seelenvorgänge“
gemacht, „wie sie mit keinem anderen Instrument auszudrücken wären“,
verlangen absolute manuelle Beherrschung und großes künstlerisches
Gestaltungsvermögen.
Beseelt vom Geist des Konzerts
Für seine Einspielung wählte Lisiecki eine interessante
Herangehensweise. Statt, wie heute vielfach üblich, die Stücke in
kleinen Häppchen aufzunehmen und am Ende versatzstückartig
zusammenzufügen, spielte er sie lieber in einem Zug durch. „Ich mag das
Aufnahmestudio und seine Möglichkeiten“, erklärt er, „doch für mich muss
die Musik trotzdem noch vom Geist eines Konzerts beseelt sein.“ Während
der Aufnahmepausen dienten ihm andere Werke aus seinem Repertoire zur
Lockerung und gewissermaßen als Erfrischung. So streute er einige Stücke
von Messiaen ein oder spielte beispielsweise eine von Bachs
Goldberg-Variationen vor Chopins Etüde op.25 Nr.1. „Das ändert die
Stimmung, ähnlich wie bei einem Konzert. Wenn man ein Parfum kauft und
zwischendurch den Geruch von Kaffee in der Nase hat, kann man den
nächsten neuen Duft wieder mit frischen Sinnen wahrnehmen.“
Jedes Stück erzählt eine Geschichte
Um den Eindruck zu vermitteln, er stehe mit dem Zuhörer in ständiger Zwiesprache, wählte Jan Lisiecki
für die schnellen Stücke relativ gemäßigte Tempi. Seiner Meinung nach
sollte jedes Stück eine Geschichte erzählen, selbst wenn sich diese
nicht immer in Worte fassen lasse. Die Etüde op.10 Nr 2 etwa ist als
„Revolutionsetüde“ bekannt. „Doch so sehe ich sie nicht“, sagt Lisiecki.
„Für mich benennt sie einen Schmerz, den man mit Worten nicht
beschreiben kann - etwas, das von ganz tief innen kommt, ein
Widerspruch, ein echter Zorn, die Frage ‚Wie kann ich damit
zurechtkommen?‘“ Zwar habe er keine vollständige Geschichte für jede
Etüde, bekennt der Pianist. Doch begreife er die Sammlung als einen
übergreifenden erzählerischen Zusammenhang, wie ein Buch, in dem jedes
Stück ein Kapitel bildet.
Klassikakzente
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