SCANDALE
Alice Sara Ott & Francesco Tristano
€ 21,90
Wie kann man heute deutlich machen, was es einst bedeutete, als
Sergej Diaghilew Anfang des 20. Jahrhunderts den Pariser Kunstbetrieb
mit seinen Ballets Russes auf den Kopf stellte? Sollte ihm das wirklich
mit Komponisten wie Strawinsky, Rimsky-Korsakow oder Ravel gelungen
sein? Und wie machen wir das heute hörbar, wo all diese einstigen
Provokateure längst zum guten Ton gehören?
Den beiden jungen Ausnahmepianisten Alice Sara Ott und Francesco Tristano
liegt es fern, diese Fragen intellektuell zu überreizen. Sie spielen,
wie ihnen die Finger gewachsen sind. Vielleicht macht ja gerade diese
verspielte Unbefangenheit, mit der sie sich den Klassikern des frühen
20. Jahrhunderts nähern, den Skandal dieser Einspielung für zwei
Klaviere aus. Beeinflusst von elektronischer Musik und anderen
Strömungen unserer Zeit, die vor allem auf die tänzerische Motorik des
Hörers abzielen, sammeln sie diese Stücke mit ihren russischen,
wienerischen und Pariser Akzenten ein und verfrachten sie ins
Club-Ambiente von heute.
Die Tatsache, dass das Hauptwerk dieses
Albums, Strawinskys "Le Sacre du printemps", beim damaligen Publikum
einen »Buh«-Reflex auslöste, schwingt hier nur als informelle Kulisse
mit. Die Provokation dieser Aufnahme besteht weniger im Rückblick auf
die Brüskierung von einst, sondern in deren vorbehaltloser
Transformierung in die Gegenwart. So ist auch Tristanos eigens für diese
CD entstandene Eigenkomposition A soft shell groove eine von
beiden Künstlern als notwendig empfundene zeitgenössische Abrundung des
Repertoires. Und wie alle anderen Werke des Albums hat das Stück mit
Tanz zu tun, eine sanft-groovige Nummer mit 4⁄4-Techno-Feeling.
Wer heute ein Stück aus dem Standardrepertoire der Klassik hört,
weiß genau, worauf er sich einlässt. Strawinsky ist kein Unbekannter,
Ravel und Rimsky-Korsakow sind es ebenso wenig. Ott und Tristano tragen
die Schöpfungen dieser drei großen Komponisten aber dahin zurück, woher
sie einst kamen. Nicht klanglich, nicht ästhetisch, aber programmatisch
und spirituell. Sie brechen auf zu einem Ausgangspunkt der
erwartungsfreien Äußerung und nehmen sich die skandalöse Freiheit, etwas
völlig neu zu erfinden, das es schon lange gibt. Scandale, das steht völlig außer Frage, ist ein Dokument des gerade in Fahrt gekommenen 21. Jahrhunderts. (Klassikakzente)
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